🎭 Orpheus in der Unterwelt – zwischen Erinnerung und Entfremdung
Ein Besuch beim Lehar Festival in Bad Ischl – und die Frage: Was bleibt vom Mythos?
Es war ein Sommernachmittag in Bad Ischl, traditionsreiche Kaiserstadt und Wirkstätte des großen Franz Lehár. Wie jedes Jahr stand ein Besuch des Lehar Festivals auf unserem Programm – eine lieb gewordene Gewohnheit, ein Ritual zwischen Kulturgenuss, Erinnern und Neuentdecken. Dieses Mal hatten wir uns für die Operette Orpheus in der Unterwelt entschieden – jenes Werk, das für mich persönlich eine ganz besondere Bedeutung trägt.
Ich war etwa zehn, vielleicht elf Jahre alt, als meine Großeltern mich zu einer Aufführung dieser Operette in die nächstgelegene Stadt begleiteten. Es war in den frühen Sechzigerjahren – die Theater waren noch nicht alle aus dem Krieg wiederhergestellt, doch es gab neue Räume, neue Hoffnung, neue Bühnen. Ich erinnere mich noch genau an mein Outfit: ein heller Popelinrock, eine hellblaue Bluse mit Tunnelzug. So gekleidet saß ich in der damals neu gebauten Stadthalle – erwartungsvoll, aufgeregt, berührt. Diese Vorstellung war mein erster Kontakt zur Welt der Oper und Operette – und sie entzündete ein Feuer, das bis heute in mir leuchtet.
Nun also, Jahrzehnte später, der Rückblick und zugleich die Gegenwart:
Ein Besuch im wunderschönen Ischler Kurtheater – ganz im Stil vergangener Zeiten, technisch modern, atmosphärisch vertraut. Und doch: schon im Foyer zeigten Bildschirme Ausschnitte, die etwas in mir zusammenzucken ließen. Ein anderes Orpheus. Eine andere Welt.
Die Vorstellung begann.
Eine junge Frau, schrill gekleidet, betrat die Bühne – ein „Social Media-Influencer“, Handy in der Hand, laute Stimme, aggressiver Ton. Sie „vertrat die öffentliche Meinung“ – und mit ihr begann eine Inszenierung, die sich mit Händen von der klassischen Geschichte entfernte. Die Handlung wurde dekonstruiert, ins Digitale übertragen, das Handy wurde zum Gott der neuen Zeit. Zwar blieben einige der bekannten Operettenarien erhalten, doch der rote Faden – der Mythos, die Tiefe, die innere Bewegung – war verloren.
Das Publikum war begeistert.
Wir – tief irritiert.
🤔 Was ist da geschehen?
Diese Frage ließ mich nicht los.
War es einfach eine moderne Neuinterpretation? Ein zeitgenössischer Zugriff auf einen Klassiker? Oder war es vielmehr ein Zeichen unserer Zeit – eine Entfremdung vom Mythos, vom Archetyp, vom inneren Raum, in dem Kunst nicht nur unterhält, sondern heiligt?
Ich fragte mich:
Was passiert mit einer Geschichte, wenn sie bis zur Unkenntlichkeit verfremdet wird?
Was bleibt, wenn der Orpheus der inneren Wandlung durch einen Selfie-Orpheus ersetzt wird?
🔥 Der Orpheus-Mythos – eine spirituelle Botschaft für heute
Orpheus ist nicht einfach nur eine Bühnenfigur.
Er ist ein Archetyp – der Sänger, der Seelenführer, derjenige, der mit seiner Musik selbst die Unterwelt bewegen kann. In der Tiefe steht Orpheus für:
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die Sehnsucht, etwas Verlorenes zurückzuholen (Eurydike – das Geliebte, das Unschuldige, das Eigene)
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den Mut, durch Dunkelheit zu gehen – den Abstieg in die eigene Unterwelt
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die Zerbrechlichkeit des Vertrauens (der Rückblick, der alles zerstört)
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die Wandlung durch Verlust und Klang
In der heutigen Zeit, in der Lautstärke oft Tiefe ersetzt, in der das Handy zur Verlängerung des Egos geworden ist, könnte der Orpheus-Mythos ein so kraftvoller Spiegel sein:
✨ Wo verliere ich mich selbst im Lärm der Welt?
✨ Wo habe ich Angst, mich in der Dunkelheit zu verlieren – statt sie zu betreten?
✨ Wo schaue ich zurück – obwohl ich eingeladen bin, zu vertrauen und weiterzugehen?
🌀 Verfremdung oder Verdrängung?
Es ist legitim, Stoffe neu zu interpretieren.
Doch wenn das Neue das Alte verhöhnt, wenn die Essenz durch Ironie ersetzt wird,
dann ist es nicht mehr Transformation – sondern Verdrängung.
Dann wird nicht geheilt, sondern zerschnitten.
Und der Zuschauer – zumindest jener mit einem fühlenden Herzen – verlässt das Theater nicht berührt, sondern verwundert. Verstimmt. Entleert.
💫 Ein leiser Ruf an die Seele
Ich glaube, dass unser Besuch in Bad Ischl kein Zufall war.
Er führte mich zurück zu meinem eigenen Ursprung – zu dem Kind im Sonntagskleid, das staunend in der neuen Stadthalle saß, offen, bewegt, wach.
Und er führte mich in die Gegenwart – in die Frage: Was will ich bewahren? Und was darf sich neu zeigen – ohne die Seele zu verlieren?
Vielleicht liegt genau darin der Ruf des neuen Orpheus:
Nicht, ihn mit dem Handy auszustatten –
sondern wieder zu lernen, mit dem Herzen zu hören.
🌹 Möge die Musik uns weiter führen.
Durch Licht und Dunkel.
Durch Alt und Neu.
Durch Erinnerung und Gegenwart.
Und möge die Seele das Lied erkennen – selbst dort, wo die Bühne schweigt.
Ich bin nicht gegen Neues.
Ich bin bereit, Brücken zu schlagen – zwischen Zeiten, Stilen und Ausdrucksformen.
Aber ich wünsche mir, dass dabei das Herz nicht verloren geht. Dass man noch spüren darf, was gemeint ist – auch wenn die Form sich verändert.
Diese Operette war einst ein Tor für mich – hinein in eine Welt, die größer war als meine. Eine Welt der Musik, der Poesie, der Sehnsucht.
Dass ich sie nun so fremd, so laut, so seelenlos erlebe, hat mich traurig gemacht. Und zugleich erinnert:
✨ Wahre Wandlung kommt nicht durch Verkleidung – sondern durch Berührung.
Und vielleicht sind wir gerade in einer Zeit, in der wir wieder lernen müssen, echt zu sein, tiefer zu hören, hinter die Kulissen zu sehen.
Ich für meinen Teil nehme den Mythos mit – zurück in mein Inneres.
Und ich lasse ihn dort neu auferstehen.
Eure Sha Elara- Petra